Wissenschaftler lösen Erdbeben in den Alpen aus, um zukünftige Ereignisse vorherzusagen

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Forscher lösen bewusst Erdbeben tief in den Alpen aus, nicht als zerstörerische Handlung, sondern als neuartigen Ansatz zum Verständnis des Erdbebenverhaltens und zur Verbesserung von Vorhersagen. Das Projekt „Fault Activation and Earthquake Rupture“ (FEAR) zielt darauf ab, die Warnsignale zu lokalisieren, die die Natur vor einem Erdbeben bereitstellt. Dies ist ein wichtiges Ziel in der Seismologie, da unser derzeitiges Verständnis der Erdbebenauslöser begrenzt ist.

Die Herausforderung der Erdbebenvorhersage

Trotz der Fortschritte bei der globalen Überwachung von Verwerfungslinien rätseln Wissenschaftler weiterhin über die unmittelbaren Auslöser von Erdbeben. Eine zentrale Frage ist, warum einige Brüche auf kurze Abschnitte von Verwerfungslinien beschränkt sind, während andere sich über Meilen erstrecken und zu schwerwiegenderen Zerstörungen führen. Derzeit können Geowissenschaftler Ereignisse erst analysieren, nachdem sie eingetreten sind, wodurch eine erhebliche Lücke in unserer Fähigkeit entsteht, Risiken vorherzusehen und zu mindern. Domenico Giardini, Professor für Seismologie und Geodynamik an der ETH Zürich, erklärt: „Was sind die Zeichen, die uns die Natur sagt? Sie werden ausnahmslos nach dem Beben klar, nicht vorher, deshalb versuchen wir viel besser zu verstehen, wie man die Zeichen erkennt.“

Die Kraft der Alpen nutzen

Um dieser Herausforderung zu begegnen, nutzt das FEAR-Projekt die einzigartigen geologischen Bedingungen der Alpen. Diese hoch aufragenden Berge liegen an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien und verfügen über ein Netzwerk tiefliegender Risse – ein Erbe von Millionen Jahren tektonischer Aktivität. Die enorme Kompression der darüber liegenden Berge führt zu Brüchen im Gestein, die 1 bis 2 Kilometer unter der Oberfläche auftreten.

Bei diesen Verwerfungen kommt es natürlicherweise gelegentlich zu kleinen Ausrutschern, die zu kleineren Erdbeben führen. Das FEAR-Projekt nutzt einen bereits bestehenden Tunnel, der ursprünglich für ein Eisenbahnprojekt gebaut wurde, und führt Experimente durch, bei denen Wasser in die Verwerfung injiziert wird, um den Zeitpunkt von Erdbeben zu steuern. „Sie hätten früher oder später in der Geschichte der Alpen stattgefunden, aber wir sorgen dafür, dass sie nächste Woche passieren“, bemerkt Giardini.

Ein kontrolliertes Experiment

Der Prozess spiegelt das wider, was passiert, wenn Öl- und Gasunternehmen Abwasser in fehlerhafte Regionen wie Oklahoma und Texas einleiten. Diese Vorgehensweise reduziert die Reibung und erleichtert das Aufbrechen von Fehlern. Das FEAR-Projekt zeichnet sich jedoch durch den Einsatz eines dichten Netzwerks von Seismometern und Beschleunigungsmessern direkt an der Verwerfung selbst aus. Dadurch können Forscher präzise messen, wie sich die Verwerfung als Reaktion auf die verringerte Reibung bewegt – ein Detaillierungsgrad, der in natürlichen Umgebungen nicht erreichbar ist.

Das Team hat bereits Hunderttausende Beben bis zur Stärke Null erfolgreich ausgelöst. (Erdbebenstärken werden auf einer logarithmischen Skala gemessen, was die Existenz sehr kleiner Beben mit Nullstärke oder sogar negativer Stärke berücksichtigt.)

Zukünftige Forschung: Temperatur und Größe

Nächste Woche werden Forscher heißes Wasser in die Verwerfung einleiten, um den Einfluss der Temperatur auf die Erdbebenentwicklung zu beurteilen. Im März will das Projekt Beben bis zur Stärke 1 auslösen.

Das ultimative Ziel besteht darin, einen vorhersehbaren Zusammenhang zwischen bestimmten Parametern und der Erdbebengröße herzustellen. Wenn es den Forschern gelingt, Beben der gewünschten Stärke auszulösen, werden sie schließlich in der Lage sein, Verwerfungen in der realen Welt zu bewerten, die notwendigen Spannungen zu berechnen, um Beben unterschiedlicher Stärke hervorzurufen, und hoffentlich die Vorhersagen verbessern zu können.

Implikationen für die Erdbebenrisikobewertung

Als Beispiel für den potenziellen Nutzen dieser Forschung nennt Giardini das verheerende Erdbeben in Syrien und der Türkei im Februar 2023. „Wir wissen, dass sich die Verwerfung in Richtung Süden und Norden fortsetzen wird. Wir wollen versuchen zu verstehen, ob das nächste Beben eine Stärke von 7, eine Stärke von 8 oder eine Stärke von 8,5 haben wird?“

Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass Faktoren wie Spannungen im Gestein rund um die Verwerfung kritische Indikatoren sind. Forscher gewinnen auch Erkenntnisse darüber, wie sich Erdbeben von einer Verwerfung zur anderen ausbreiten.

„Wir sehen Beispiele, die wir selbst unter der Erde produzieren und die dem, was in der Natur passiert, sehr ähneln“, schließt Giardini.

Der innovative Ansatz des FEAR-Projekts bietet Hoffnung auf eine Zukunft, in der Erdbeben nicht völlig unvorhersehbar sind und Gemeinden sich besser auf diese unvermeidlichen Naturereignisse vorbereiten können